Rente

Eine Statistik des Landesamtes für Gesundheit und Soziales für das Jahr 2009 spiegelt einen leichten Rückgang bei den Antragseingängen wider. Dennoch bewegen sich diese auf dem Niveau der Vorjahre. Außerdem fällt ins Auge, dass weit mehr als die Hälfte der Anträge ohne Zuerkennung von Versorgungsleistungen beschieden wird. Im Bereich des verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes beträgt die Ablehnungsquote im Berichtszeitraum sogar 100 Prozent. Ausschlaggebend für die Anerkennung eines verfolgungsbedingten Gesundheitsschadens ist in erster Linie das vom Versorgungsamt in Auftrag gegebene ärztliche Gutachten. Noch immer klagt ein Großteil der Betroffenen über teils unsensible Befragungen bei der ärztlichen Begutachtung. Die Begutachtungssituation als solche, aber auch die vorliegenden Gutachten selbst bergen nach Ansicht des Landesbeauftragten weiterhin großes Konfliktpotenzial. Die Kriterien, nach denen über die Anträge entschieden wird, sind für die Antragsteller undurchsichtig und ihnen auch nur schwer zu vermitteln.

Zum Beispiel Herr K.: Herr K. hatte als junger Mann aus der Bundesrepublik während eines Besuchs in Ost-Berlin seinen Pass einem DDR-Bürger gegeben, damit dieser in den Westen fliehen könne. Deshalb wurde Herr K. verhaftet und wegen „versuchten Menschenhandels" zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Für diese Verurteilung

Mündlich übermittelte Angaben des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin, Versorgungsamt. wurde er strafrechtlich rehabilitiert und erhielt eine Kapitalentschädigung. Im Jahr 2007 stellte Herr K. auch einen Antrag auf Anerkennung von verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden. Schon in seiner Haftakte ist dokumentiert, dass er dem seelischen Druck in der Haft nicht standhielt. Er wurde deshalb im Gefängnis medizinisch behandelt. Nach dem Freikauf in die Bundesrepublik entwickelte Herr K. aufgrund der unverarbeiteten Hafterlebnisse eine Alkoholkrankheit. Seit 1999 lebt er abstinent und befindet sich in einer psychotherapeutischen Behandlung. Erst nachdem er sich psychisch einigermaßen stabilisiert hatte, war es ihm möglich, den Antrag beim Versorgungsamt zu stellen. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Eine posttraumatische Belastungsstörung konnte die ärztliche Gutachterin bei Herrn K. nicht diagnostizieren.

Auch die Alkoholabhängigkeit wertete sie nicht als Folge der politischen Inhaftierung.

Im Gegenteil: Diese sei vielmehr ursächlich für „Verwahrlosung" und „mehrere Entzugs- und Entwöhnungsbehandlungen" des Herrn K. Nach Einreichen eines Widerspruchs erließ das Versorgungsamt einen Teilabhilfebescheid, der eine Schädigungsfolge von unter 25 Prozent anerkennt. Eine Begründung für die Abänderung, die schließlich von der gutachterlichen Empfehlung abweicht, wurde nicht mitgeteilt.

Herr K. hält seinen Widerspruch auch nach der Teilabhilfe weiterhin aufrecht.

Zum Beispiel Herr L.: Herr L. war als Jugendlicher aufgrund familiärer Probleme in einen Jugendwerkhof eingewiesen worden. Da er versuchte, von dort zu fliehen, wurde er in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau überstellt. Die dortigen Zustände waren derart menschenunwürdig und rechtsstaatswidrig, dass die haftähnliche Unterbringung in dieser Anstalt nach Beschluss des Berliner Kammergerichts grundsätzlich strafrechtlich zu rehabilitieren ist. Herr L. erhielt vom Berliner Landesgericht für seine sechsmonatige Haft in Torgau und eine weitere politische Inhaftierung jeweils die strafrechtliche Rehabilitierung. Er bekam die ihm zustehende Kapitalentschädigung und ist Empfänger der sogenannten Opferrente.

Herr L. ist seit Jahren schwerbehindert, erwerbsunfähig und befindet sich seit langem in psychiatrischer Behandlung, weil er die physischen und psychischen Misshandlungen in Torgau nicht verkraftet hat. Er ist dort wegen kleinster Vergehen und willkürlich mit Knüppeln und Schlüsselbunden geschlagen worden und hatte eine 14-tägige totale Dunkelhaft zu verbüßen, während der ihm nur minimale Nahrung verabreicht und die Körperhygiene verweigert wurde. Hinsichtlich seines 2008 ge11 stellten Antrags auf Anerkennung von verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden erhielt er im Jahr 2009 den Bescheid vom Versorgungsamt, dass ihm bezüglich seiner psychischen Beeinträchtigung Schädigungsfolgen und ein Grad der Schädigung von unter 25 Prozent anerkannt werden. Die physischen Leiden gingen auf „degenerative Ursachen" zurück und seien somit nicht anzuerkennen. Gegen den Bescheid legte Herr L. Widerspruch ein, der zwischenzeitlich zurückgewiesen wurde. Herr L. ist verbittert, weil er den Eindruck gewonnen hat, dass seine Schilderungen der Schikanen in Torgau vom ärztlichen Gutachter offenbar als nicht glaubwürdig qualifiziert wurden. Außerdem scheint es, als hätten Gutachter und Versorgungsamt die entsprechende Fachliteratur, die es mittlerweile zum Geschlossenen Jugendwerkhof gibt, noch nicht zur Kenntnis genommen. Herr L. wird Klage gegen den Widerspruchsbescheid einreichen.

Angesichts dieses Beispiels muss nochmals eine Vereinfachung der Verfahren beim Gesetzgeber angemahnt werden. Außerdem ist darauf zu achten, dass sowohl die Bearbeiter in den Versorgungsämtern als auch die ärztlichen Gutachter mit den Spezifika des Repressionsapparats des SED-Regimes im Allgemeinen, aber auch mit den konkreten Haftbedingungen in den jeweiligen Haftanstalten vertraut sind oder entsprechende Fortbildungen erfahren.

In den letzten Wochen des Jahres 2009 zeichnete sich eine Sicherung der Existenz der Beratungsstelle „Gegenwind", die wichtiger Ansprechpartner für die Betroffenen ist, zunächst für 2010 ab. Eine Finanzierung aus dem Mauer-Grundstücks-Fonds ist zudem für die darauf folgenden Jahre angedacht. Auf diese Weise könnte die psycho-soziale Beratung und Betreuung vieler Betroffener in Berlin auf eine solide und auf Dauer ausgelegte Grundlage gestellt werden. Da die psychischen Belastungen vieler ehemals Verfolgter und ihrer Angehöriger virulent und therapeutische Angebote für diese Menschen rar sind, wird die professionelle Tätigkeit dieser Beratungsstelle zukünftig noch wichtiger werden. Vor diesem Hintergrund sollte alles unternommen werden, die Arbeit der Beratungsstelle dauerhaft zu sichern.